Pisa-Schock – Nur die Spitze des bildungspolitischen Eisbergs
Pisa-Schock – Nur die Spitze des bildungspolitischen Eisbergs
Im
Unterschied zu früheren Berichterstattungen zu den Ergebnissen der PISA-Studie
ist das Medienecho zur neuesten PISA-Studie zumindest aus statistischer Sicht
durchaus differenzierter. Während früher insbesondere Ländervergleiche im
Zentrum der Berichterstattung standen, die allerdings auf Basis der PISA-Daten
äußerst fragwürdig sind, konzentrieren sich die derzeitigen Meldungen
überwiegend auf die zeitliche Entwicklung der Kompetenzen der Schülerinnen und
Schüler in Deutschland. Und dabei wurde zumeist richtigerweise auf die sich
veränderte Struktur der Schülerschaft hingewiesen, die sich durch die
erhebliche Zuwanderung nach Deutschland ergibt (siehe dazu auch unsere Unstatistik von Dezember 2013). Auch wurde darüber berichtet, dass im Rahmen der
PISA-Studie nur ein eingeschränkter Teil der in der Schule vermittelten
Kompetenzen (Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften) erfasst wird
und es – zumindest im Ländervergleich – Probleme bei der Stichprobenziehung
gibt.
Zugang
der Bildungsforschung zu deutschen Bildungsdaten ist stark eingeschränkt
Zur
Unstatistik wird diese Berichtserstattung nicht aufgrund fehlerhafter
Interpretationen der Ergebnisse der PISA-Studie oder dem nun wieder entfachten
Aufschrei nach bildungspolitischen Maßnahmen. Zur Unstatistik wird die
Berichterstattung, weil in diesem Zusammenhang über einen relevanten Aspekt
nicht berichtet wird: die mangelnde Verfügbarkeit von Daten für die
Bildungsforschung, die nicht zuletzt vom Verein für Socialpolitik kürzlich kritisiert wurde. Ein Beispiel: An allen
öffentlichen Schulen Deutschlands werden umfangreiche Schülerindividualdaten im
Rahmen administrativer Prozesse erhoben. Zudem werden zahlreiche, teilweise
deutschlandweit einheitliche Kompetenztests in verschiedenen Jahrgangsstufen
durchgeführt. Mit derartigen Daten ließen sich Rückschlüsse auf Lern- und
Kompetenzdefizite von Schülerinnen und Schülern ziehen und besonders
unterstützungsbedürftige Schulen identifizieren.
Obwohl
es weitgehend unstrittig ist, dass empirische Evidenz zur Wirksamkeit
bildungspolitischer Maßnahmen notwendig ist, um das Bildungssystem zu
verbessern, ist der Zugang der Wissenschaft zu diesen Daten meist versperrt
oder mit hohen Hürden verbunden. Man gewinnt so den Eindruck, dass
bildungspolitischen Akteure an aussagekräftigen wissenschaftlichen Evaluationen
ihrer Maßnahmen nicht interessiert sind – das Ergebnis könnte ja sein, dass die
mit viel Aufwand aufgesetzten Programme keine Wirkung zeigen. Warum sonst muss
das Einverständnis der Kultusministerkonferenz (KMK) eingeholt werden, wenn man
Vergleiche zwischen Bundesländern durchführen möchte? Vor diesem Hintergrund
ist auch die Forderung, an der PISA-Studie nicht mehr teilzunehmen, nicht
wirklich hilfreich. Erkenntnisse für eine bessere Bildungspolitik kann man nur
über einen Vergleich verschiedener Bildungssysteme oder bildungspolitischer
Maßnahmen gewinnen. Die bekannten Mängel der PISA-Studie kann man mit
geeigneten statistischen Methoden und einer der Qualität der Daten
entsprechenden vorsichtigen Interpretation der Ergebnisse weitgehend in den
Griff bekommen.
Bildungsverlaufsregister
könnte wirksamere Bildungspolitik ermöglichen
Bessere
Bildungspolitik braucht eine bessere Evidenz zur Wirksamkeit
bildungspolitischer Maßnahmen (siehe hierzu unter anderem die Initiative der Leopoldina zur evidenzbasierten
Politik). Und diese
hängt wiederum von besseren Daten und einem verbesserten Zugang zu diesen Daten
ab. So fordert der Verein für Socialpolitik beispielsweise den Aufbau eines Bildungsverlaufsregisters über alle
Stufen der formalen Bildung. Andere
europäische Länder zeigen, dass der Aufbau eines solchen Registers aus
existierenden Daten möglich ist und der Zugang zu diesem Register für die
Wissenschaft datenschutzkonform realisiert werden kann. Es wird Zeit, dass
Deutschland in Sachen Bildungsforschung mit anderen Ländern aufschließt und der
Wissenschaft ermöglicht, wichtige Impulse für die Verbesserung des deutschen
Bildungssystems zu geben.
Ihre
Ansprechpartner/in dazu:
Prof. Dr. Thomas
K. Bauer (RWI), Tel.: (0201) 8149-264
Dr. Friederike Hertweck (RWI), Tel.: (0201) 8149-255
Sabine
Weiler (Kommunikation RWI), Tel.: 0201/ 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de
Anmerkung: Unser Dank geht an Dr. Friederike Hertweck (RWI). Sie
hatte die Idee, vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse auf die mangelnde
wissenschaftliche Verwertbarkeit deutscher Bildungsdaten hinzuweisen und ist
Ko-Autorin dieses Unstatistik-Textes.
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd
Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin
Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl
jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“
finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist
zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende
Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.
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