Wirtschaftskriminalität nimmt drastisch zu – oder doch nicht?
Für einen gehörigen Medienwirbel sorgte Anfang April eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln zur Wirtschaftskriminalität.
Fast alle Leitmedien und viele Regionalzeitungen nahmen dieses Thema auf. So meldete beispielsweise tagesschau.de „Wirtschaftskriminalität in Deutschland steigt“, zdf.de titelte „Wirtschaftskriminalität nimmt drastisch zu“.Ein
wichtiger Indikator bei diesen Meldungen war die Zahl der gemeldeten Fälle,
basierend auf vom Bundeskriminalamt (BKA) gelieferten Zahlen auf Grundlage der
Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Die nahm von 2021 zum Berichtsjahr 2022
von 51.260 auf 73.114 zu – ein Anstieg um 42,6 Prozent. Aber ob dahinter
tatsächlich ein derart fulminanter Anstieg wirtschaftskriminellen Handelns
steht, ist zweifelhaft. Denn in der Kriminalstatistik kommen fast alle
Fallstricke zusammen, die einer zahlenmäßigen Erfassung unseres Gemeinwesens
entgegenstehen. Wer hat wann wo was getan? Welches Handeln zählt als kriminell?
Vor einem Jahr war der Besitz von 50 Gramm Marihuana kriminell, heute nicht.
Dann das sogenannte „Dunkelfeld“ – längst nicht jede kriminelle Tat geht in die
Kriminalstatistik ein, mit Manipulationsmöglichkeiten vielfältiger Art. So soll
dem Vernehmen nach schon mal der eine oder andere Polizeipräsident zwecks
Imageaufbesserung seiner Stadt geäußert haben, dass er nicht böse wäre, wenn
beim Schwarzfahren weniger strikt kontrolliert werden würde.
Sammelverfahren
lassen Fallzahlen nach oben schnellen
Problematisch ist zudem die Abgrenzung der Wirtschafts- von der „gewöhnlichen“ Kriminalität. Ist Ladendiebstahl ein wirtschaftskriminelles Delikt? Die Antwort ist nein: wirtschaftskriminell, so das Bundeskriminalamt in einer wenig strapazierfähigen Definition, sind Straftaten im Kontext einer vorgetäuschten oder tatsächlichen wirtschaftlichen Handlung; gemeint ist wohl Kaufen und Verkaufen sowie Kreditvergabe und Geldverkehr. Das reine Zählen der Fälle ist ebenfalls nicht trivial: Ein Internetbetrüger erschleicht sich von 100 Kunden einen Vorschuss auf eine nie erfolgte Leistung: Sind das 100 Fälle oder einer? Und wo verortet man bei regionalen Vergleichen die Fälle? Am Wohnort des Täters oder am Wohnort des Opfers? Hier gibt es keine klare Linie, mit wenig vertrauenswürdigen Zahlen als Endprodukt. So wurden etwa im Jahr 2022 in Thüringen nur 611 Fälle von Wirtschaftskriminalität gezählt, in Schleswig-Holstein dagegen 34.800. Damit hält Schleswig-Holstein den bundesweiten Rekord. Der ist aber, wie das Bundeskriminalamt mitteilt, allein „auf ein Sammelverfahren in Schleswig-Holstein, bestehend aus 33.738 Fällen im Bereich des Leistungsbetrugs, zurückzuführen. Hierbei nutzten die Geschädigten eine kostenpflichtige Online-Dating-Plattform, bei der sie annahmen, Kontakt mit Menschen zu haben, die sie auch außerhalb der Plattform kennenlernen könnten.“ Nimmt man diese Dating-Plattform aus der Statistik heraus, hat die Wirtschaftskriminalität in Deutschland abgenommen.
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Sabine Weiler (Kommunikation RWI), Tel.: 0201/ 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd
Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin
Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl
jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“
finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist
zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende
Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
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