Corona Impfungen - Was nun?
Unstatistik des Monats:
Wie wirksam und sicher ist die AstraZeneca-Impfung?
Wirksamkeit: Was bedeutet 79 Prozent?
Die Unstatistik des
Monats November setzte sich
bereits mit der Frage auseinander, wie Angaben zur „Wirksamkeit“ von
Impfstoffen richtig zu verstehen sind. Wir haben eine Flut von Nachfragen
erhalten und werden hier anhand der neuesten Studiendaten zur Impfung von
AstraZeneca noch einmal vertieft auf diesen schwierigen Begriff eingehen.
Am 22. März hat AstraZeneca in einer Pressemitteilung über die vorläufigen Ergebnisse einer neuen Studie in den USA, Chile und Peru mit 32.449 Personen berichtet. Demnach ist die Wirksamkeit des Impfstoffs 79 Prozent für symptomatische Covid-19 Erkrankung. Das bedeutet, dass auf je 100 Erkrankte unter den Nicht-Geimpften lediglich 21 Erkrankte unter den Geimpften kamen. Als Erkrankte gelten in dieser Studie Personen, welche infiziert sind (positiver COVID-19 Test) und mindestens ein typisches Symptom haben, beispielsweise mindestens 37,8 °C Fieber.
Die berichtete Wirksamkeit verändert sich auch im
Laufe der Studien. Wenige Tage nach der Pressemitteilung vom 22. März berichtete
etwa AstraZeneca, dass sich
mit Berücksichtigung der letzten Daten eine Wirksamkeit von 76 statt 79 Prozent
ergibt.
In diesen Pressemitteilungen werden jedoch nicht die
absoluten Zahlen angegeben, die man braucht, um die Berechnung der Wirksamkeit
nachvollziehen zu können. Dazu nehmen wir die im Januar publizierte
AstraZeneca-Studie aus Brasilien, Großbritannien und Südafrika, welche die
absoluten Zahlen berichtet: Unter den 5.829 Nicht-Geimpften gab es 101
Erkrankte und unter den 5.807 Geimpften waren es lediglich 30. Das heißt,
dass sich der Anteil der Erkrankten von 101/5.829 auf 30/5.807 verringerte,
also um rund 70 Prozent. Diese Wirksamkeit wurde bis zu 5 Monate nach der
ersten Impfdosis und bis zu 3 Monate nach der zweiten Impfdosis bestimmt – im
Mittel also deutlich kürzer. Am einfachsten kann man die Wirksamkeit berechnen,
indem man einen gemeinsamen Nenner nimmt, wie etwa 1.000 Personen. Das
ergibt dann bei Nicht-Geimpften rund 17 Erkrankte und bei Geimpften 5 Erkrankte
unter je 1.000 Personen. Die Wirksamkeit der Impfung berechnet sich dann
als (17 – 5)/17, was einen Wert von etwas über 70 Prozent ergibt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass man nicht sagen
kann, die Wirksamkeit eines Impfstoffes ist genau 70 oder 79 Prozent. Sie
variiert mit dem Land, der Variante des Corona-Virus, dem Alter der Personen
und anderen Faktoren. In dieser Studie waren fast neun von zehn Teilnehmern
höchstens 55 Jahre alt; es handelt sich also um eine erheblich jüngere
Population als die Gesamtbevölkerung.
Was Wirksamkeit nicht bedeutet
Eine Wirksamkeit von 70 Prozent bedeutet aber nicht,
dass die Impfung 70 Prozent der Geimpften vor einer Erkrankung geschützt hat oder
schützen wird. Diese Fehlinterpretation gibt es häufig. Wirksamkeit ist eine relative
Risikoreduktion, also etwa von 17 auf 5 Erkrankte pro 1.000 Personen. Absolut
gesehen sind jedoch nur zwölf von je 1.000 Geimpften aufgrund der Impfung nicht
erkrankt – die absolute Risikoreduktion in der Studie war also 1,2
Prozentpunkte, von 1,7 Prozent auf 0,5 Prozent.
Nun könnte man einwenden, dass irgendwann alle
Menschen an COVID-19 erkranken und sich dann die 70 Prozent auf alle beziehen
werden. Um zu verstehen, dass dem nicht so ist, betrachten wir einmal ein
Gedankenexperiment: 1.000 Nicht-Geimpfte, die keine Anzeichen einer
durchgemachten oder bestehenden Corona-Infektion aufweisen, werden mit dem
SARS-CoV-2-Virus in einen geschlossenen Raum gesperrt und Monate festgehalten,
so dass sich alle infizieren.
Studien zeigen aber, dass nur 2/3 bis 3/4 der
Infizierten auch erkranken, d.h. mindestens ein Symptom entwickeln. Damit kann
man erwarten, dass unter den Nicht-Geimpften bis zu 750 Menschen erkranken
werden. Unter 1.000 vergleichbaren Geimpften, die ebenfalls Monate mit dem
Virus in einem geschlossenen Raum verbringen, reduziert sich die Zahl der
Erkrankten von 750 auf 225 (bei einer Wirksamkeit von 70 Prozent).
Faktisch vor einer Erkrankung geschützt hat die Impfung
dann 525 Menschen. Würde die Impfung auf Lebenszeit immunisieren, wären demnach
maximal 52,5 Prozent aller Geimpften kausal durch die Impfung vor einer
Erkrankung geschützt, denn die anderen wären selbst unter extremsten
Bedingungen nicht erkrankt bzw. sind es dennoch. Die absolute Risikoreduktion
würde selbst in diesem Extrembeispiel 52,5 Prozentpunkte betragen und nicht
mehr. Kurz gesagt, die relative Reduktion (die Wirksamkeit) ist nicht das
gleiche wie die absolute Reduktion — selbst wenn alle Menschen infiziert
würden.
Wenn die Impfung dagegen weniger lange immunisiert,
verringert sich ihre Schutzwirkung. Nimmt man beispielsweise an, dass die
impfbedingte Immunität ein Jahr lang anhält und sich innerhalb dieses Jahres 12
Prozent der Menschen infizieren, dann erkranken ohne Impfung davon bis zu 75
Prozent (also 9 Prozent der Nicht-Geimpften) und von diesen erwarteten
Erkrankungen werden bei den Geimpften 70 Prozent durch die Impfung verhindert.
Durch die Impfung vor Erkrankung geschützt sind demnach 6,4 Prozent der
Geimpften (die absolute Risikoreduktion).
Wirksamkeit in kontrollierten Studien ist nicht immer
gleich Wirksamkeit in der realen Welt
Dennoch könnte man argumentieren, 95 Prozent
Wirksamkeit bei BioNTech oder Moderna schützen vor einem Krankenhausaufenthalt
besser als 70 oder 79 Prozent bei AstraZeneca. Dies wäre jedoch ein voreiliger
Schluss, aus zwei Gründen. Zum ersten beziehen sich diese Zahlen auf
Erkrankungen (definiert als positiver Test und mindestens ein Symptom; die
Definitionen variieren allerdings zwischen den Herstellern), nicht auf die
wichtigen schweren Erkrankungen oder Krankenhausaufenthalte. Für letztere
werden sowohl für AstraZeneca als auch für Moderna eine Wirksamkeit von 100
Prozent berichtet, doch die Fallzahlen waren alle sehr niedrig. Zum anderen
unterscheidet man im Englischen zwischen Efficacy (Wirksamkeit) und
Effectiveness (Wirksamkeit unter realen Bedingungen). Letztere hängt von
Faktoren ab, die in einer klinischen Studie nicht alle beachtet werden können.
Zur Wirksamkeit von AstraZeneca unter realen
Bedingungen liegt nun eine erste Auswertung
aus Schottland vor. Dabei ist es längst nicht mehr so leicht möglich,
vergleichbare Bedingungen für Versuchs- und Kontrollgruppe zu schaffen: So sind
unter den Geimpften der Studie nur knapp 35 Prozent jünger als 64 Jahre, unter
den Nicht-Geimpften hingegen über 91 Prozent. Entsprechend anspruchsvoll sind
die statistischen Verfahren, um solche Unterschiede herauszurechnen. Nach
diesen Berechnungen konnte rund einen Monat nach Gabe der ersten Impfdosis der
BioNTech-Impfstoff 85 Prozent und der AstraZeneca-Impfstoff 94 Prozent der
Krankenhaus-Einweisungen verhindern. Bei kürzerer oder längerer
Beobachtungsdauer war der Effekt deutlich geringer, wobei der
AstraZeneca-Impfstoff kurz nach der Impfung durchgängig eine höhere
Effectiveness zeigte als derjenige von BioNTech – allerdings gibt es noch keine
Daten für einen Zeitraum von mehr als einem Monat. Das verdeutlicht den großen
Einfluss, den die Zeit auf das Ergebnis besitzt. Es zeigt auch, dass man von
der Wirksamkeit in der Reduktion von Erkrankungen in den Zulassungsstudien
nicht direkt auf die Wirksamkeit in der Reduktion von Krankenhaus-Einweisungen
in der realen Welt schließen kann. In der Studie in Schottland zeigt sich der
AstraZeneca Impfstoff bisher mindestens so effektiv wie jener von BioNTech.
Sicherheit der AstraZeneca-Impfung
Das Paul-Ehrlich-Institut meldete am 16. März, dass es
im zeitlichen Zusammenhang mit AstraZeneca-Impfungen in Deutschland zu sieben
schweren Fällen von Hirnvenenthrombosen kam (sechs davon Frauen). Bei 1,6
Millionen Impfungen wäre aber nur etwa ein Fall zu erwarten gewesen. Darauf
wurde in Deutschland der Impfstoff vorübergehend nicht mehr verwendet. Am 18.
März bestätigte
die EMA ihre Einschätzung, dass der
Nutzen der Impfung die Nebenwirkungen überwiegt, es keinen Zusammenhang
zwischen dem Insgesamt-Risiko von Blutpfropfen gibt, aber es einen Zusammenhang
mit sehr seltenen Fällen wie Hirnvenenthrombosen geben könnte. Die EMA
berichtete von 25 solchen Fällen in 20 Millionen Europäern. Das würde einer
Wahrscheinlichkeit von einem schweren Fall in 800.000 Menschen entsprechen,
oder einem in 229.000 im Fall der deutschen Zahlen.
Doch am 30. März meldete das Paul-Ehrlich-Institut
insgesamt 31 Fälle von Hirnvenenthrombose (29 davon Frauen im Alter von 20 bis
63 Jahren) unter insgesamt 2,7 Millionen Personen, die mit AstraZeneca geimpft
wurden. In Deutschland hatte man bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend jüngere
Menschen mit AstraZeneca geimpft, in Großbritannien hingegen auch viele ältere.
Dort wurden lediglich 5 Fälle von Hirnvenenthrombosen unter 11 Millionen
Geimpften berichtet. Das legt den Verdacht nahe, dass diese seltene
Komplikation vor allem jüngere Frauen trifft. Daher kann es sinnvoll sein, bis
zum Vorliegen belastbarerer Erkenntnisse die bisherige Strategie, nur jüngere
Menschen mit AstraZeneca zu impfen, zu beenden und alle Gruppen außer jüngere
Frauen damit zu impfen. Momentan gibt es noch viele Über-60-Jährige, die nicht
geimpft sind, und es bietet sich an, AstraZeneca vorrangig für diese Gruppe zu
nutzen.
Das Risiko dieser seltenen Hirnvenenthrombosen kann
man zudem am besten im Kontext einordnen. Setzt man die Impfung aus, können
wegen der Knappheit der Impfstoffe anderer Hersteller deutlich weniger Menschen
geimpft werden, was zu weitaus mehr schweren Erkrankungen durch COVID-19 und
Todesfällen als die seltenen Hirnvenenthrombosen führt. Man kann sich auch
vergegenwärtigen, dass wir anderswo schwere Risiken in Kauf nehmen, ohne viel
darüber nachzudenken. Im Beipackzettel von Aspirin findet man etwa, dass
Hirnblutungen und akutes Nierenversagen in weniger als einer von je 10.000
Personen auftritt, die Aspirin einnehmen. Kein Vergleich ist perfekt, aber Vergleiche
helfen, die Risiken in eine Perspektive zu setzen.
Bis heute erreicht uns, das Unstatistik-Team, eine Flut von Anfragen zur Impfung. Viele bedanken sich für die Aufklärungsarbeit, andere lassen mit einem verärgerten Unterton anklingen, dass Aufklärung Munition für Impfkritiker liefern würde. Wir stellen deshalb klar: Impfung ist die große Hoffnung wieder zu einem normalen Leben zurückzukehren. Zahlen sind immer unsicher. Doch mit einem Rest von Ungewissheit leben zu können, statt sich eine Illusion der Gewissheit oder Verschwörungstheorie zu konstruieren, ist das Lebensblut einer informierten Gesellschaft.
Ansprechpartner/in:
Katharina Schüller
(STAT-UP),
Tel.: (089)
34077-447
Prof. Dr. Gerd
Gigerenzer,
Tel.: (030) 805 88 519
Leonard Goebel
(Kommunikation RWI), Tel.: (0201)
8149-210, leonard.goebel@rwi-essen.de
Mit der
„Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer,
der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina
Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst
publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden
Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.
Unstatistik-Autorin
Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die
sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta
ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
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