Antisemitismus – nur ein rechtes Problem?
Die
Fakten: Im dritten
Quartal 2023 erfassten die Behörden in Deutschland 540 Fälle
antisemitischer Straftaten. Um Gewalttaten handelt es sich in 14 Fällen. Im
dritten Quartal 2022 gab es nur 306 antisemitische Straftaten, darunter elf
Gewaltdelikte.
Es
ist seit geraumer Zeit bekannt, dass die Fallzahlen antisemitischer Straftaten,
die dem rechten Spektrum zugeordnet werden, systematisch fehlerhaft erfasst
werden. Der Tagesspiegel wies bereits vor Jahren auf den Missstand hin,
ungelöste Fälle zur Kategorie „PMK-rechts“ zu zählen, selbst wenn die Kategorie
„nicht zuzuordnen“ angemessener wäre. Diese Praxis führt zu einer erheblichen
Verzerrung der Statistik und verschleiert die tatsächliche Verbreitung
antisemitischer Einstellungen. Dieses Problem bleibt jedoch in sämtlichen
aktuellen Meldungen unberücksichtigt. Auch der Tagesspiegel selbst übernimmt die Behauptungen zur Motivlage der
Vorfälle diesmal ungeprüft.
Hintergrund
politisch motivierter Kriminalität bleibt häufig unbekannt
Die vergleichsweise niedrige Aufklärungsquote politisch
motivierter Kriminalität insgesamt, die im Jahr
2022 bei knapp 42 Prozent lag, lässt an der Darstellung des
Bundesinnenministeriums zweifeln. Besonders deutlich wird dies, wenn man zum
Vergleich die Jahresberichte des Bundesverbandes der Recherche- und
Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) für das Jahr
2022 heranzieht. Dessen Berichterstattung wird vom Bundesinnenministerium (BMI)
gefördert. Die Gesamtzahl der Vorfälle ist ähnlich hoch wie diejenige, die
behördlich beim BKA erfasst und später ebenfalls durch das BMI veröffentlicht
wird. Aber RIAS stellt deutlich heraus, dass ganze 53 Prozent der Straftaten im
Jahr 2022 einen unbekannten Hintergrund hatten und 21 Prozent dem
verschwörungsideologischen Milieu zuzuordnen waren. Einen rechtsextremen bzw.
rechtspopulistischen Hintergrund fand RIAS bei 13 Prozent der antisemitischen
Straftaten.
Die BMI-Statistik zur politisch motivierten
Kriminalität zeigt, dass im
Jahr 2022 mit 82,7 Prozent der überwiegende Teil der antisemitischen Straftaten
dem rechten Spektrum zugeordnet wurde. Nimmt man an, dass die Aufklärungsquote
etwa dem Durchschnitt bei politisch motivierter Kriminalität entspricht, so
wurden von insgesamt 2.641 Fällen gut 58 Prozent, also 1.536, nicht aufgeklärt,
aber als rechts motivierte Straftaten gezählt. Ohne diese ergeben sich
lediglich 649 Fälle, die sicher dem rechten Spektrum zugeordnet werden können –
ein Anteil von 24,6 Prozent an der Gesamtzahl. Auch für die Zahlen aus der Kleinen Anfrage der Linksfraktion an die
Bundesregierung, die von den
Medien unkritisch aufgegriffen wurde, reduziert sich der Anteil gesichert
rechts motivierter Fälle auf jeweils knapp ein Viertel der Gesamtzahl.
Verzerrte
Statistiken behindern Kampf gegen Antisemitismus
Das
bedeutet nicht, dass Rechtsextremismus kein wesentliches Motiv antisemitischer
Vorfälle ist. Denn auch unter den nicht aufgeklärten Fällen (und nicht zuletzt
in der Dunkelziffer) mögen sich zahlreiche finden, deren Täter aus dem rechten
Spektrum stammen. Allerdings weist RIAS deutlich darauf hin, dass
verschwörungsideologische Motive insbesondere in der Coronapandemie der
Haupttreiber judenfeindlicher Straftaten waren. Eine derartige Kategorie taucht
in der BMI-Statistik jedoch nach wie vor nicht auf.
Die offizielle Statistik leidet also unter gleich zwei Problemen. Erstens werden Fälle systematisch falsch zugeordnet. Zweitens fehlt eine wichtige Kategorie, um den Hintergrund antisemitischer Vorfälle vollständig richtig einordnen zu können. Beides zusammen verführt dazu, Statistiken zum Werkzeug politischer Narrative zu missbrauchen. Egal welcher politischen Einstellung man sich selbst zuordnet: Dass mit solchen Zahlen eine verzerrte Realität konstruiert wird, birgt die große Gefahr, dass wir blind werden für ein möglicherweise zunehmendes Risiko. Denn mithilfe sozialer Medien und generativer KI verbreiten sich Fake News und damit Verschwörungstheorien heute exponentiell. Wer den drohenden Anstieg judenfeindlicher Einstellungen wirksam bekämpfen will, der darf sich nicht von falschen Statistiken in die Irre führen lassen – oder wie zahlreiche deutsche Medien sogar dazu beitragen, diesen Irrtum zu bestärken.
Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447
Sabine Weiler (Kommunikation RWI), Tel.: 0201/ 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
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