Die dicken Kinder von Hessen - Unstatistik des Monats:
Die dicken Kinder von Hessen
Die Unstatistik des
Monats Juli ist die von vielen Medien kolportierte starke Zunahme der
Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. So titelte bild.de
am 5. Juli „Die dicken Kinder von Hessen“, hessenschau.de schrieb „Immer mehr Kinder sind extrem übergewichtig“ und laut der Überschrift einer von Zeit.de
übernommenen Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) ist der „Anteil übergewichtiger Kinder stark gestiegen“.
Zeit.de
spricht von „einem Zuwachs von fast zwölf Prozent“ an Jungen und Mädchen mit
Adipositas zwischen 2019 und 2021 in Thüringen. Die online-Ausgabe der
Bild-Zeitung berichtet, dass der Zuwachs in Hessen sogar mehr als 15 Prozent
beträgt. Auch hätten die absoluten Zahlen stark übergewichtiger Kinder, diesmal
über zehn Jahre gerechnet, dramatisch zugenommen. Zurück gehen die Meldungen
auf Auswertungen der Barmer Krankenkasse.
Aber
wie viel ist „fast zwölf Prozent“? Laut dem „Arztreport 2023“ der Barmer Krankenkasse stieg der Anteil adipöser
Kinder (d. h. solche mit einem Body-Mass-Index von 30 und mehr) während der
Coronazeit in den Jahren 2019 bis 2021 von 3,19% auf 3,55%. Das ist ein
absoluter Anstieg um 0,36 Prozentpunkte, also wenig bemerkenswert. Angesichts
der durch Bewegungsarmut und ausgefallenen Sportveranstaltungen geprägten
Coronajahre könnte man fast von einer erfreulichen Entwicklung sprechen.
Immerhin sind selbst über die Coronajahre über 96% aller deutschen Kinder nicht
fettleibig geworden.
Aus
einem kleinen absoluten Anstieg wird durch die Darstellung in relativen
Wachstumsraten und absoluten Zahlen eine große Sache
Bei
Zeit Online, bei bild.de und in vielen anderen Medien dagegen wurde wie so oft
bei absolut kleinen Risiken vorzugsweise mit relativen Wachstumsraten oder
absoluten Zahlen operiert. Der relative Zuwachs adipöser Kinder beträgt, wie
man leicht ausrechnen kann, 11,3%.
Vielfach
ging man auch noch weiter in die Vergangenheit zurück, dadurch wurden die
relativen Wachstumsraten wie auch der absolute Zuwachs der Zahl der adipösen
Kinder nochmals größer. Das ist aber aus drei Gründen statistisch unzulässig.
Einmal lassen sich die Daten des Arztreports 2011 der Barmer Ersatzkasse, der
als Grundlage der langfristigen Vergleiche dient, wegen zwischenzeitlicher
Fusionen mit anderen Krankenkassen nicht mit denen des Jahres 2021 vergleichen.
Ferner darf angezweifelt werden, ob man aus Kundendaten der Barmer Ersatzkasse
überhaupt auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen kann. Hier handelt es sich auf
keinen Fall um eine Zufallsstichprobe aller Kinder in der Bundesrepublik. Und
selbst in diesem Idealfall wäre wegen des unvermeidbaren Zufallsfehlers bei
jeder Stichproben-Hochrechnung ein Anstieg um 0,36 Prozentpunkte leicht dem
Zufall zuzuschreiben. Und dann hat auch die Anzahl der Kinder und Jugendlichen
bis zum Alter von 14 Jahren von 2011 auf 2021 in Deutschland um fast eine
Million zugenommen. Allein das erklärt zumindest einen Teil des vielfach
beklagten Anstiegs der Anzahl adipöser Kinder.
Wie
groß die Angabe einer relativen Wachstumsrate ein faktisch wohl eher kleines
Problem macht, zeigt auch die bei Spiegel.de am 21. Juli veröffentlichte
Meldung „Zahl der abgewiesenen Deutschen in Großbritannien
verzehnfacht“. Demnach ist
die Zahl der an der Grenze zurückgewiesenen Bundesbürger nach dem Brexit
„massiv“ gestiegen, seit dem Jahr 2019 hat sie sich auf 805 verzehnfacht. Mit
durchschnittlich etwas mehr als zwei zurückgewiesenen Bundesbürgern pro Tag
dürfte das Problem an der Grenze sich trotzdem in Grenzen halten.
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Ihr/e Ansprechpartner/in dazu:
Prof. Dr. Walter
Krämer
walterk@statistik.uni-dortmund.de
Sabine Weiler (Kommunikation RWI),
Tel.: 0201/ 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
Neu erschienen: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.
Bei Weiterverbreitung von Texten aus der Reihe "Unstatistik des Monats" muss klar erkennbar sein, dass es sich um die Übernahme eines fremden Textes handelt. Zudem ist die Quelle https://www.unstatistik.de zu nennen. Bitte informieren Sie die Pressestelle des RWI über die Verwendung des Textes unter presse@rwi-essen.de. Das Urheberrecht bleibt bestehen.
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