Der Mythos von den faulen Deutschen
Die Unstatistik des Monats August ist die Interpretation einer OECD-Statistik zur durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit in den Industrieländern. Deutschland liegt im Jahr 2022 weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.
Gerade einmal 1.341 Stunden je Erwerbstätigen wurden geleistet; der OECD-Schnitt lag bei 1.752 Stunden. Mexiko lag mit 2.126 Stunden an der Spitze.Mit schöner Regelmäßigkeit werden
diese Zahlen völlig fehlinterpretiert. Die „Rheinische Post“ schrieb Ende Juli
vom „Mythos der fleißigen Deutschen“, der durch die
Statistik „entlarvt“ würde. Schon im März behauptete das Institut der deutschen
Wirtschaft (IW) im „Informationsdienst Wissenschaft“ unter Berufung auf die
OECD-Zahlen: „In der Bundesrepublik wird im Vergleich zu anderen
Ländern wenig gearbeitet.“ Die vdi-Nachrichten kommentierten Anfang
August: „Keiner arbeitet so wenig wie die Deutschen.“ Doch „Länder, in denen Menschen weniger arbeiten, sind in der
Regel produktiver und wohlhabender.“
Erst vor wenigen Tagen stellte
ein Nutzer auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn die Frage, warum wir (er bezog sich
auf die Schweiz) so wenig arbeiten würden und dennoch so wahnsinnig gestresst
seien. In weit über 500 Kommentaren wurde heftig darüber gestritten, ob
Schweizer (und Deutsche) gerne jammerten, zu viel sinnfreie Arbeit verrichteten
oder es einfach nicht mehr gewohnt seien, lange zu arbeiten.
Zu Hause bleiben –
durchschnittliche jährliche Arbeitszeit erhöhen
Alle diese Lesarten übersehen
eine wichtige Limitation: Die Statistik umfasst „die regulären Arbeitsstunden von Vollzeit-, Teilzeit- und
Saisonarbeitskräften, bezahlte und unbezahlte Überstunden sowie die in
Nebentätigkeiten geleisteten Stunden“. Deren Anteile variieren von
Land zu Land. Bei der Berechnung des Durchschnitts zählt aber ein
Erwerbstätiger in Vollzeit genauso viel wie einer, der nur 15 Wochenstunden
arbeitet. Die Zahlen sind deshalb nicht für Ländervergleiche geeignet, worauf
die OECD auch deutlich hinweist.
Angenommen in einer Partnerschaft
arbeitet der Mann 38,5 Wochenstunden an 45 Arbeitswochen, während seine
Partnerin nicht erwerbstätig ist. Das ergibt mit 1.732,5 Stunden fast genau den
OECD-Schnitt. Nun erhöht der bereits Erwerbstätige seine Arbeitszeit auf 40
Wochenstunden und seine Partnerin nimmt eine Teilzeitbeschäftigung mit 20
Wochenstunden auf. Im Schnitt werden 30 Stunden an 45 Wochen gearbeitet, also
etwa die deutschen 1.350 Stunden. Statistisch gesehen ist das weniger, obwohl
beide mehr arbeiten. Will Deutschland also den Anschluss an die OECD schaffen,
muss einfach nur jeder Teilzeitbeschäftigte ab morgen zu Hause bleiben.
Dies lässt sich leicht zeigen,
wenn man Teilzeitquoten und insbesondere die Erwerbstätigkeitsquoten von Frauen
in den OECD-Ländern
den jeweils durchschnittlichen Jahresarbeitsstunden gegenüberstellt.
Der Anteil von Frauen in Teilzeit
ist immer höher als derjenige der Männer – im OECD-Schnitt um fast 50 Prozent.
Zwischen Teilzeitquote und Jahresarbeitsstunden lag im Jahr 2022 die
Korrelation bei -0,33. Das heißt: Es gibt einen leicht negativen Zusammenhang
zwischen Teilzeitquote und geleisteten Arbeitsstunden. Die Korrelation zwischen
dem Anteil erwerbstätiger Frauen und geleisteten Arbeitsstunden ist deutlich
stärker; sie liegt bei -0,68. Das bedeutet: Je stärker Frauen am Arbeitsmarkt
partizipieren, umso geringer ist die durchschnittliche Zahl der jährlich
gearbeiteten Stunden, weil Frauen häufiger in Teilzeit beschäftigt sind.
Es gibt weitere Gründe für die
Differenzen, z. B. eine unterschiedliche gesetzliche Mindestanzahl an
Urlaubstagen in den jeweiligen Ländern oder eine unzureichende
Sozialversicherung, die in manchen Ländern Arbeitnehmer dazu bewegt, auch bei
Erkrankung zu arbeiten. Insbesondere die fehlende Gewichtung von Voll- und
Teilzeit verzerrt das Ergebnis allerdings massiv.
Eine geringere durchschnittliche
Arbeitszeit sagt deshalb nichts über Fleiß oder Faulheit aus. Es kommt vielmehr
darauf an, was man in einer Stunde an Wert produziert. Und es kommt auch darauf
an, wie man arbeitet: unter fairen und gesunden Arbeitsbedingungen, einer
höheren Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt und einer Bezahlung, die es Arbeitnehmern
erlaubt, von ihrem Gehalt zu leben.
Unstatistik des Monats
Ihr/e Ansprechpartner/in dazu:
Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447
Alexander Bartel
(Kommunikation RWI), Tel.: 0201/ 8149-354, alexander.bartel@rwi-essen.de
Mit der „Unstatistik des
Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder
Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und
RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen
als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet
unter www.unstatistik.de
und unter dem Twitter-Account @unstatistik.
Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data
Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen
einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
Neu erschienen: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über
Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite
Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von
22 Euro.
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