Flucht und Vertreibung
Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 setzte Josef Stalin die Abtrennung der bereits 1939 bis 1941 sowjetisch besetzten polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion durch. Ostpolen war im Zuge des Friedensvertrags von Riga 1921 polnisch geworden. Das Gebiet hatte bis 1793 zu „Altpolen“ gehört. Mit dem polnisch-sowjetischen Geheimvertrag vom 27. Juli 1944 (geschlossen mit dem Lubliner Komitee) hatte die sowjetische Regierung anerkannt, dass „die Grenze zwischen Polen und Deutschland auf einer Linie westlich von Swinemünde zur Oder, wobei Stettin auf polnischer Seite bleibt, weiter den Lauf der Oder aufwärts zur Mündung der Neiße und von hier an der Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze festgelegt werden soll“; auch der zweite Grenzvertrag vom 16. August 1945 mit der Polnischen Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit enthielt diese Festlegung.
Mit diesem Plan einer Westverschiebung Polens bei gleichzeitiger ethnischer Säuberung der neuen sowjetischen und der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ Polens stellte Stalin, wie Timothy Snyder bemerkt, den Generalplan Ost der Nationalsozialisten auf den Kopf: Statt einer enormen Expansion des deutschen Siedlungsgebiets nach Osten wurde es nun im Westen zusammengedrängt.
Die polnischen Ostgebiete waren ethnisch heterogen, wobei in den Großstädten wie Lemberg (Lwów) und Wilna (Wilno) die Polen dominierten, auf dem Land außer in der Gegend um Wilna Belarussen und Ukrainer. Polen, Belarussen und Ukrainer stellten die größten Volksgruppen, wobei um Wilna die Polen, zwischen Njemen (Memel) und Pripjet die Belarussen, südlich des Pripjet die Ukrainer die Mehrheit stellten.
Die bürgerliche polnische Exilregierung in London erhob Anspruch auf Teile Ostpreußens und Schlesiens, in denen es eine polnische Minderheit gab. Die Forderung einer Oder-Neiße-Linie hatte eine bis 1917 zurückreichende Geschichte[3] und erhielt Nahrung durch das Versprechen Stalins von 1941 gegenüber Władysław Sikorski, dass die künftige Westgrenze Polens die Oder sein werde. In der polnischen Westforschung waren diese Vorstellungen in Entgegnung auf die deutsche Ostforschung auf eine bis ins 10. Jahrhundert zurückreichende Argumentationsbasis gestellt worden. Daraus ergab sich bei Kriegsende die Einrichtung des bis 1949 bestehenden „Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete“.
Bereits ab Sommer 1941 forderten die polnische und die tschechoslowakische Exilregierung in London Grenzkorrekturen nach dem Sieg über das Deutsche Reich. Dies sollte ausdrücklich die Entfernung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten und auch aus dem übrigen Staatsgebiet einschließen. Die polnische Exilregierung begründete ihre Forderung damit, dass die deutschen Gebiete eine Entschädigung für die Verluste an Gütern und Menschen während der Besatzungszeit sein sollten, und verwies dabei auf die Verbrechen der Nationalsozialisten im Generalgouvernement. Stalin rechnete damit, dass die Sowjetunion mit der Vertreibung und Enteignung von Millionen Deutschen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei dauerhaft als Garantiemacht eines neuen Status quo werde auftreten können. Mit diesem Kalkül hatten das zaristische Russland und später die Sowjetunion bereits im Nordkaukasus Vertreibungen als Mittel der Politik angewandt. Im Jahr 1944 ließ Stalin einige Bergvölker (Balkaren, Tschetschenen, Inguschen und andere) nach Mittelasien deportieren.
Die geforderte Vertreibung der Deutschen wurde mit einem Verweis auf das Verhalten der deutschen Besatzer zu legitimieren versucht. Hinzu kamen, insbesondere in Polen, sozioökonomische Ziele. Weite Gebiete Ostmitteleuropas galten damals als überbevölkert.
In einem Rechtsgutachten, das hinsichtlich der Sudetendeutschen im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung 1991 erstellt wurde, kam der österreichische Verfassungsrechtler und Menschenrechtsexperte Felix Ermacora zu folgendem Ergebnis: „Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der angestammten Heimat von 1945 bis 1947 und die fremdbestimmte Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg widersprach nicht nur der in der Atlantik-Charta und dann in der Charta der UN verheißenen Selbstbestimmung, sondern die Vertreibung der Sudetendeutschen ist Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht verjährbar sind.“
Kommentare
Kommentar veröffentlichen