Corona Prognosen
Auszug aus der Unstatistik des Monats:
Corona-Mutationen und die Probleme von Prognosen
Im Januar hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer internen Sitzung vor den Gefahren der in Großbritannien aufgetretenen Mutation B.1.1.7 des Corona-Virus gewarnt, unter anderem focus.de zitierte sie mit der Aussage: „Wenn wir es nicht schaffen, dieses britische Virus abzuhalten, dann haben wir bis Ostern eine zehnfache Inzidenz“. Von einigen Kommentatoren wurde dies als starker Tobak abgekanzelt, nicht zuletzt mit Verweis auf vergangene Prognosefehler im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie. Diese Kritik an fehlerhaften Prognosen verdeutlicht eine durchaus weit verbreitete Unkenntnis der Entstehung, Probleme und Aufgaben von Prognosen, die nachfolgend erläutert werden.
Wie
entstand die Prognose unserer Bundeskanzlerin? Hierzu müssen erst einmal einige Annahmen getroffen
werden. Verschiedene neuere Studien aus Großbritannien (s. dazu einen Bericht der Staatlichen Agentur „Public Health England“),
einen Artikel zur Übertragung der
Corona-Mutation B.1.1.7 in England sowie Aussagen von Virologe Christian Drosten
auf web.de) legen nahe,
dass die Virusmutation B.1.1.7 ungefähr 35 bis 70 Prozent ansteckender ist als
die bisher bekannte Form. Darüber hinaus muss man Annahmen über die bisher
vorhandenen Infektionen mit der neuen Form des Virus treffen, da es hierzu
bisher nur sehr wenige belastbare Daten gibt. Angenommen, der Anteil des mit
der neuen Virusmutation derzeit infizierten Anteils der Bevölkerung liegt
irgendwo zwischen 0,1 und 1 Prozent. Geht man nun zusätzlich von der Annahme
aus, dass die Verbreitung des Virus einem exponentiellen Wachstumsprozess folgt
(siehe hierzu unsere Unstatistik vom 25. März 2020) und geht man von dem derzeitigen Reproduktionswert
von etwa 1,1 sowie einer 7-Tage-Inzidenz von 164 aus, kommt man in einer
optimistischen Variante (die Virusmutation ist ca. 40 Prozent ansteckender und
wenige sind bereits mit der Mutation infiziert) bis Ostern auf einen
Inzidenzwert von etwa 500 Infektionen je 100.000 Einwohner. In einer
pessimistischen Variante (mit der Annahme, dass die Virusmutation sehr viel
ansteckender ist und viele bereits mit der neuen Mutation infiziert sind) auf
eine 7-Tages Inzidenz von etwa 3500 Infektionen je 100.000 Einwohner. Der
Durchschnitt beider Szenarien entspricht in etwa der von Frau Merkel genannten
Verzehnfachung der Inzidenz.
Wo
liegen die Probleme dieser Prognose?
Ein zentrales Problem der obigen Prognose liegt in der mangelhaften Qualität
der zugrundeliegenden Daten. Die Corona-Mutation B.1.1.7 wurde erst im November
2020 in Großbritannien entdeckt. Daher liegen bisher auch nur wenige
Informationen zum Ausbreitungsprozess dieser Mutation vor. Dies erklärt auch
die erhebliche Bandbreite der geschätzten Ansteckungsgefahr der Mutation, die
von 35 Prozent bis 70 Prozent ansteckender als die bekannte Version des Virus
reichen. Da in Deutschland bisher keine systematische Analyse der Ausbreitung
der Virusmutation erfolgt, fehlen zudem belastbare Informationen darüber, wie
viele Personen sich bereits mit der neuen Variante angesteckt haben. Diese
Information ist jedoch für die Prognose der wahrscheinlichen Inzidenzzahlen zu
Ostern zentral. Entsprechend groß ist die Unsicherheit dieser Prognose, die
zwischen einer 7-Tages Inzidenz zu Ostern von 500 bis 3500 je 100.000
reicht.
Die
bereits erwähnte Kritik an Prognosefehlern liegt jedoch an einer in der
öffentlichen Wahrnehmung weitgehend ignorierten Annahme von Prognosen:
Prognosen können nur auf Basis des vorhandenen Wissens erstellt werden. Daher
muss man immer annehmen, dass die Zukunft so verläuft wie die Vergangenheit.
Darin liegt jedoch gerade eine der zentralen Aufgaben einer Prognose:
Man schätzt die zukünftige Entwicklung, wenn alles so bleibt, wie es ist, um
auf Basis dieser Prognose Handlungsnotwendigkeiten und -optionen diskutieren zu
können. Damit ist aber jedwede Prognose bereits mit ihrer Veröffentlichung
notwendigerweise falsch! Denn die Prognose selbst führt zu
Verhaltensänderungen, damit unterscheidet sich die Zukunft von der
Vergangenheit und die Prognose ist nicht mehr korrekt. Vergangene Prognosen
ex-post zu kritisieren ist daher unfair – die Prognose hat mehr oder weniger
selbst dazu beigetragen, dass sie nicht stimmt. Nehmen wir das Beispiel der
Merkel’schen Prognose zu den Inzidenzzahlen zu Ostern. Wird diese nicht
ernstgenommen und die derzeitigen Beschränkungen gelockert, wird es nach
jetzigem Kenntnisstand sehr viel schlimmer kommen als vorhergesagt. Verschärft
man die derzeitigen Maßnahmen massiv, weil man aufgrund der Prognose extrem
besorgt ist, werden die vorhergesagten Inzidenzzahlen bei weitem nicht
erreicht. Wie auch immer – alleine die Diskussion um diese Prognose wird
dazu führen, dass sie falsch sein wird.
Ansprechpartner/in:
Prof. Dr. Thomas K.
Bauer,
Tel.: (0201) 8149-264
Sabine Weiler
(Kommunikation RWI), Tel.: (0201) 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de
Mit der
„Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer,
der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina
Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst
publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden
Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.
Unstatistik-Autorin
Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die
sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta
ist ab dem 31. Januar unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
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