Verstrickungen im Jahr 2000
Letzte Woche ist mir ein Artikel in die Hände gefallen, der sich vor fast 20 Jahren mit der schönen neuen Computerwelt auseinandergesetzt hat. Wie sich die Zeit verändert hat. Trotzdem sind die grundsätzliche Fragen geblieben.
Ich sitze am Schreibtisch. Mein Blick fällt auf die kleine Rechenmaschine über dem Kamin. Zeit zum Dösen, meine Gedanken tasten sich in die Vergangenheit, als dieses Wunderwerk aus schwarzlackiertem Gußeisen den höchsten Luxus moderner Bürotechnik vorstellte. Waren das noch Zeiten, als sich Generationen von Buchhaltern mit raschem Kurbeldrehen Klarheit über ihre Zahlenwerke verschafften. Das galt natürlich nicht für die Lehrlinge. Die hatten gefälligst im Kopf zu rechnen und seitenweise Zahlenkolonnen zu addieren.
Kurze Zeit später gab es dann endlich elektrische Rechenmaschinen und — die Entwicklung überschlug sich — Taschenrechner. Zuerst in der Größe einer Reiseschreibmaschine und plötzlich winzig und spottbillig. Zum Werbeartikel degradiert und auch kein Geschenk mehr für den Filius. Den Taschenrechner hatte er sich längst selbst gekauft. Kopfrechnen war sowieso abgeschafft. Und erst die alte Schreibmaschine, deren Farbband immer hängenblieb und die Typen verstopfte.
Auch fast unmerklich, aber konsequent abgelöst vom PC. Heute selbstverständliches Hilfsgerät. Alle Welt ruft nach optimaler Versorgung der Schulen mit Rechnern, die vernetzt werden können.
Und der Nachwuchs von heute weiß längst, wo er sich das Wissen abholen kann. Lehrer werden nach Ansicht ihrer Schutzbefohlenen eventuell noch als Zeitplanorganisatoren benötigt, und in EDV-Fragen ist der Wissensvorsprung für den Lehrkörper kaum noch aufholbar. Bis auf kleine Nebensächlichkeiten.
Zum Beispiel die Sache mit der Werte-Diskussion neulich. Die Musik aus dem Zimmer meines Sohnes, die sonst den Dackel aus dem Haus treibt, war verstummt. Ich wagte einen vorsichtigen Blick in das Halbdunkel — es wird doch nichts passiert sein — und hörte ihn beschwörend murmeln: „Komm schon, komm schon, irgend-wo müssen doch diese verdammten Werte zu finden sein." Die Suchmaschine im Internet zeigte Kurswerte an der Börse.
Zu meiner Zeit hätte ich wahrscheinlich den väterlichen Bücherschrank durchgesehen und mühsam alle erforderlichen Informationen zusammengetragen. Heute wird offensichtlich nicht der Kopf, sondern ein Suchsystem aktiviert.
Aber Großvater fand ich dennoch besser. Opa, der auf Kommando — von uns Kindern heimlich angestaunt und ungläubig belächelt — stundenlang Gedichte aufsagen konnte, Dialoge aus Klassikern ganz selbstverständlich in die Unterhaltung einfließen ließ, weil er sie irgendwann mal ge-lernt und gespeichert hatte. Aber das macht ja nun der Rechner — wenn man das richtige Programm abfragt.
Eigenständig denken, auswendig lernen, kopfrechnen, sich Dinge merken, auch wenn man sie nicht sofort verwenden kann. ist Zeit- und Energieverschwendung, sagt der zwölfjährige Nachkomme, der während meiner Gedankenreise am PC sitzt und ebenso gleichmütig wie herablassend die Programme wieder in Ordnung bringt, die ich aus Versehen gelöscht habe: „O.K. Papa, die Kiste läuft wieder. Ich habe vorsichtshalber deine Dateien gebackupt (! ). aber tu mir einen Gefallen und lern endlich mal, mit dem Computer vernünftig umzugehen. Stellst dich an wie der letzte Mensch. Für dich ist endlich mal Lernen angesagt, fürs Leben und so. Es gibt schon sehr leichte Volkshochschulkurse für Leute wie dich."
Meine Augen lösen sich von der niedlichen Rechenmaschine, und ich setze mich seufzend vor den Computer. Nicht ganz frei von der Furcht, wieder nach meinem Fach-mann rufen zu müssen, der kopfschüttelnd das Zimmer verlassen hat.
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